erinnerungen | dialektik zwischen begrifflichem und imaginärem denken [2006|2012]
erinnerungen – archiviert in 63 einmachgläsern: fotografische abbilder in form von kleinbilddias aus unterschiedlichen quellen. sie sind sedimente aus vergangenen zeiten, dem betrachter versperrt und doch durch neonlicht erhellt. was bleibt? kontext – der begriffliche rahmen: über ein display wird der installation ein titel zugewiesen, der sich regelmässig verändert. er ist ein assoziationsangebot für den betrachter, das jeweils unterschiedliche, eigene bilder hervorrufen kann. während das sichtbare unverändert bleibt, verändern sich die vorstellung des zu sehenden und die eigenen bilder im zuge des wechselnden titels. die arbeit setzt sich mit der codierung von begriff und bild, deren umkehrung sowie den sich daraus entwickelnden widersprüchlichkeiten auseinander.
recollections | dialectics between conceptual and imaginary thinking [2006|2012]
Recollections – an archive of 63 preserving jars: photographic images in miniature slides deriving from different sources. They are sediments of former times, blocked to the view of the beholder, yet lit by neon light. What else is left? Context – the conceptual frame: A display assigns an ever changing title to the installation. It is an offer for associating, the beholder can produce individual images by himself. While the invisible is unchanged, the ideas of the visible as well as the individual images are changing corresponding to the alternating titles. The work deals with the encoding of concept and image, their reversion as well as the thus evolved contradictions.
Dagrun Hintze: Ohne Titel [2010]
So war das jetzt nun also, Du erwartetest ein Kind. Zu behaupten, Du wüsstest nicht, wie es dazu gekommen wäre, hätte sich absurd ausgenommen, aber wenn Du ehrlich warst, konntest Du die Verbindung zwischen den angewandten Bett-Choreographien und dem, was sich nun in Deinem Bauch ankündigte, tatsächlich nicht herstellen. Aber gut, nun war es so, Du hattest Dir das nicht gewünscht, aber auch nicht nicht gewünscht, manchmal setzte sich die Biologie eben durch, und vielleicht lag darin ja sogar etwas Hoffnung. Mehr Hoffnung vielleicht sogar als in der Kunst oder in gutem Essen oder der Flasche Rotwein in Deinem Keller, die Du jetzt nicht mehr trinken durftest.
Du hattest Dich schnell mit der Aussicht auf Nachwuchs arrangiert, Du hattest die nötigen Vorkehrungen getroffen, eine Wickelkommode war aufgestellt, ein Mobile mit Schmetterlingen aufgehangen, die Wände des zukünftigen Kinderzimmers in einer Farbe gestrichen, die für Jungen und Mädchen gleichermaßen in Frage kam. Was fehlte, war ein Name. Eigentlich zwei, schließlich hatte die Ultraschalluntersuchung das Geschlecht des Dings in Deinem Bauch nicht preisgegeben. Deine Freundinnen schenkten Dir Namensbücher, aber Du fandest es mühsam, zwischen all den fremdländischen Südseeköniginnen- und Wikinger-Klängen etwas zu finden, was Deiner Vorstellung von einem Kind entgegenkam. Internet-Seiten wiesen Dich darauf hin, wie wichtig es sei, einen Namen zu wählen, der erstens schön klang, zweitens überzeugend in eine Koseform abzuwandeln war und drittens ein günstiges Schicksal für seinen Träger prophezeite. Die Latte lag hoch.
Um Dir einen Eindruck von dem zu verschaffen, was andere Eltern für ihre Kinder als Bezeichnungen aussuchten, schmuggeltest Du Dich in die nächstgelegene Entbindungsklinik. Auf den rosa und hellblauen Armbändern der Neugeborenen standen die Nachnamen, die ja nur in den seltensten Fällen selbst ausgesucht werden, aber an den Schildchen, die an den Plastikwannen auf Rädern angebracht waren, in denen die Kleinen darauf warten mussten, dass das Größerwerden passierte, wurdest Du fündig. Marie. Sophie. Lena. Johann. Leon. Tim. Jeden dieser Namen entdecktest Du mindestens dreifach, manchmal auch in Kombination. Marie Sophie. Lena Marie. Tim Johann. Du stelltest Dir vor, wie es für die Namensträger wäre, in ein paar Jahren in den Kindergarten zu kommen und festzustellen, dass es jede Menge ihresgleichen gab. Nicht schön. Man wollte doch einzigartig sein. Speziell. Genau beschrieben. Du hattest keine Ahnung, ob Kinder das auch wollten, aber als Erwachsener war es doch so. Die Internet-Seiten hatten außerdem gesagt, dass es gut sei, einen besonderen Namen zu tragen, einen, der seinen Träger als außergewöhnlich auswies. Gleichzeitig hattest Du gelesen, dass ein zeitlos klassischer Name besser sei als ein modisch häufiger – und wenn etwas zeitlos klassisch war, dann doch wohl Lena Marie.
Die Entbindungsklinik lag in einem Wohnviertel für Besserverdienende, deshalb fanden sich hier wahrscheinlich keine modisch häufigen Namen und schon gar keine Justins und Dustins. Die Wissenschaft kannte den “Kevinismus” oder – in der weiblichen Variante – den “Chantalismus”, die Wahl eines Namens zeugte hier von Unterschichtszugehörigkeit, dabei wollten die Eltern eigentlich etwas ganz anderes, nämlich sich fortschrittlich zeigen, deshalb wählten sie den angloamerikanischen Sprach- als Namensraum und nicht die nordische Sagenwelt. Pech gehabt. Kevin sei kein Name sondern eine Diagnose, hatte eine Erzieherin letztens zu einer Zeitung gesagt. Aber – auch das hattest Du irgendwo gelesen – erfolgreiche Menschen trugen häufig einfache Namen. Eine solche Untersuchung war bislang nur in Amerika durchgeführt worden, erfolgreiche Menschen hießen dort John oder Pete, Julie oder Pat. War das hierzulande dann Unterschicht? Und wolltest Du eigentlich ein Kind, das mit seinem Namen später erfolgreich sein konnte? Erhebungen über den Zusammenhang von Vorname und Lebensglück hattest Du nirgends gefunden, und Du wolltest eigentlich auch nicht allein zuständig sein für das spätere Lebensglück des Dings in Deinem Bauch, aber eine Beratungsstelle für Kindervornamen war nirgends eingerichtet, Du vermutetest also, dass andere Menschen nicht solche Probleme hatten, aber Du warst es auch schon gewohnt, andere Probleme zu haben als andere Menschen. Als zur Unterschicht gehörig wolltest Du es keineswegs ausweisen, auch wenn Dein Bankkonto das durchaus nahe gelegt hätte, aber dafür konnte das Kind schließlich nichts. Einen Migrationshintergrund hattest Du nicht mal väterlicherseits zu bieten, das wäre noch was gewesen, ein Name, der betonte, dass es noch einen anderen Kulturkreis gab, in dem man zuhaus war, was für ein Reichtum. Natürlich könntest Du Dein Kind auch ohne Migrationshintergrund Mohammed oder Ahmed nennen, aber das wäre Dir wie eine Schwindelei vorgekommen, und zur Zeit assoziierte man solche Namen womöglich mit Islam-Konvertiten, und wer sagte Dir denn, dass da nachher nicht tatsächlich ein Terrorist rauskam? Sarah oder Rahel gefielen Dir vom Klang her durchaus, aber das machte wieder ein anderes Fass auf, dem Mohammed gäbe man eine Kultur dazu, die er gar nicht kannte, der Sarah eine schwere Geschichte.
Die Kinderkrankenschwester warf Dich schließlich von der Station. Sie hatte bemerkt, dass Du keinesfalls recherchiertest – wie Du vorgegeben hattest – sondern jeden Tag von neuem die Schildchen an den Plastikwannen studiertest und die dort verzeichneten Namen vor Dich hinmurmeltest. Ein Schild an ihrem Kittel kennzeichnete sie als “Schwester Yvonne”, das passte. Über Dein Problem hatte sie auch nicht mit Dir reden wollen, und nun warst Du wieder allein mit Deinen Namensbüchern.
Um nicht gänzlich zu verzweifeln, gingst Du mit dem Dings in Deinem Bauch ins nächstgelegene Museum. Das machtest Du immer, wenn Du nicht mehr weiter wusstest, und da das häufig vorkam, besaßt Du eine Jahreskarte. Die weißen Wände, der schwarze Fußboden, das Neonlicht, all das tröstete Dich, weil es zu einem aufgeräumten Gesamteindruck führte. Du fühltest Dich nie aufgeräumt und hättest sogar weiße Farbe und eine Neonröhre geschluckt, wenn das inwendig etwas geändert hätte, aber das würde bei dem Dings in Deinem Bauch sicher Schaden anrichten. Auch die Sachen an den Wänden wirkten oft aufgeräumt, und fast immer klebte neben ihnen ein weißes Schild: Ohne Titel. In Deiner aktuellen Notlage gefiel Dir das ganz besonders gut, o.T. bedeutete, es gab zwar etwas, das eigentlich einer Bezeichnung würdig war, aber es gab keine Bezeichnung, die den Blick nicht fälschlicherweise verengte, deshalb hatten die Künstler eine neue Bezeichnung erfunden. Aber wenn Du Dein Kind o.N., ohne Namen nennen würdest, würden die
Leute wieder denken, dass Du es nicht genug liebtest, um Dir was Passendes auszudenken, und das wolltest Du nun auch wieder nicht. Von den Künstlern dachte niemand, dass sie ihre Werke nicht anständig liebten, auch wenn sie sie nicht “Klatschmohn” oder “Gebrochenes Herz” nannten. Überhaupt gab es in diesem ganzen Museum einfach zu viele ohne Titel, und das wurde auch gleich wieder zu etwas, das eine elitäre Zugehörigkeit schaffte, und ein elitäres Kind war Dein Ziel nun ganz sicher nicht.
Was wäre, wenn Du ihm unzählige Namen gäbest, einen für jede Lebenslage? Du hattest keine Ahnung, ob da eine behördlich festgesetzte Obergrenze existierte, mehr als zwanzig Vornamen waren vielleicht eine Straftat, aber die Royals zum Beispiel, meintest Du Dich zu erinnern, führten doch jeder mindestens zehn Vornamen, da konnte man sich bei der Hochzeit schon mal verheddern, wenn man die beim Eheversprechen in der richtigen Reihenfolge wiedergeben wollte. Ein Tim für den Kindergarten, wo die anderen noch nicht so gut sprechen konnten, eine Lena Marie für die Oberschule im Wohnviertel der Besserverdienenden, wo es dann noch zwei weitere in der Klasse gab, so dass man nicht weiter auffiel, ein Kevin zum Klarkommen in heiklen U-Bahn-Situationen bei Nacht. Ein Mohammed, falls das Kind doch noch mal konvertieren wollte, eine Pat für das Vorstellungsgespräch bei einer New Yorker Investment Bank. Und eine Leerstelle am Ende der Namenskette, die sollte das Dings in Deinem Bauch gefälligst selbst nach Belieben füllen, wenn es denn endlich wusste, was es war, eine Südseekönigin oder ein Wikinger oder ganz etwas anderes. Von Dir war das eindeutig zuviel verlangt.